Berlin, Schlaraffenland der Coronaleugner?
Weltweit steigen die Infektionszahlen. Frankreich etwa meldete gestern rund 54.000 Neuinfektionen in 24 Stunden. Nach wie vor ist kein Heilmittel für Covid-19 in Sicht und wann die Impfung kommt ist immer noch ungewiss. In Deutschland sieht die Lage bislang noch nicht so dramatisch aus wie in anderen Staaten, doch auch hier steigen die Zahlen rasant. Und zwar schneller, als Kanzlerin Merkel es erst vor ein paar Wochen vorgerechnet hat. In vielen Landkreisen sieht man sich unaufhaltsam auf einen Lockdown zusteuern. Auch in Berlin, das besonders viel Kritik einstecken musste, weil die Hygienemaßnahmen vielerorts kaum durchgesetzt werden konnten.
Vermutlich auch, um der Welt zu zeigen, dass Berlin die Lage ernst nimmt, nahm OB Müller uns Berliner BürgerInnen gerade erst ordentlich ins Gebet und drohte mit dem unabwendbaren Lockdown. Die Polizei verkündete an diesem Wochenende besonders scharfe Kontrollen und holte sich dazu sogar die Bundespolizei ins Boot, mit der sie dann auf der Kreuzberger Bergmannstraße Radfahrer kontrollierte, die beim Fahren keinen MNS trugen. Innensenator Geisel gab das neue Motto aus: „Die Zeit der Sorglosigkeit ist vorbei!“
"Alle Länder um uns herum sind dunkelrot. Und irgendjemand träumt noch und glaubt, an uns geht das spurlos vorbei? Tut mir leid. Das ist wirklich nicht mehr als ein Traum."
— rbb|24 (@rbb24) October 20, 2020
So aufgebracht hat man Berlins Regierenden Bürgermeister Müller lange nicht mehr gesehen.#Corona #Berlin pic.twitter.com/T37dsq9liV
Leider scheint das die Berliner Polizei irgendwie falsch verstanden zu haben, denn schon Samstag mittag gab es eine Vielzahl von Meldungen, dass eine Art Flashmob von Maskenverweigerern (bestehend aus „Querdenkern“, Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen) durch Berlin zog, Menschen mit MNS in der S-Bahn anpöbelte und sehr deutlich machte, dass den Teilnehmern die Seuchenschutzmaßnahmen zwar bekannt, aber völlig egal waren. Und es geschah sehr lange: nichts. Außer höflichen Aufforderungen, den MNS anzulegen, schien die Polizei diesem Treiben kaum etwas entgegensetzen zu können. Dass die Gesundheit von Unschuldigen willentlich in Gefahr gebracht wurde – egal. Dass Menschen sich bedroht fühlten, gerade weil sie die Hygienemaßnahmen befolgten – egal. Es gab zumindest ein paar Anzeigen wegen gefälschter Atteste, aber das stoppte die „Querdenker“ nicht wirklich.
In der @SBahnBerlin pöbelten die #Maskenverweigerer Fahrgäste an, die MNS trugen. Das #StefanBauer #Youtube-Team um #AttilaHildmann-Fan Thilo Polster filmte Menschen gegen deren Willen. Frau versuchte Tocher vor den #Querdenken-Filmern zu schützen.#b2410pic.twitter.com/JTFHIlgfiC
— Nicola Sacco (@SchwarzePalmen) October 24, 2020
In der Nacht zu Sonntag dann kam es zu einem Brandanschlag auf das Robert-Koch-Institut, das seit Monaten besonders im Fokus von „Coronaleugnern“ und Verschwörungsgläubigen steht. Und das hätte eigentlich der Moment sein müssen, in dem Polizeiführung und Politik den Ernst der Lage erkennen und konsequent gegensteuern! Aber dann kam der Sonntag. Und die bereits angekündigte Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung. Und es geschah sehr lange: nichts. Nein, ganz stimmt das nicht. Es geschah eine ganze Menge. Leider ließ kaum etwas davon die Berliner Polizei in einem günstigen Licht erscheinen – insbesondere, da die schon nach der letzten „Querdenker“-Demo in Berlin viel Kritik einstecken musste. Stichwort: Reichstag.
Zunächst einmal war die Polizei gnadenlos unterbesetzt und schien fast noch überforderter als beim letzten Aufmarsch der selbst ernannten „Corona-Rebellen“. Dabei haben die „Querdenker“ in den letzten Wochen deutlich gezeigt, dass sie ihre „Mission“ ernst nehmen und ihre Anhänger sich immer weiter radikalisiert haben. Es gab Drohungen gegen die Presse, Antisemitismus, Rassismus und demokratiefeindliche Hetze. Und in der Nacht eben den erwähnten Brandanschlag. Dennoch war die Polizei zunächst nur mit einer zweistelligen Zahl von Einsatzkräften vor Ort – obwohl die Veranstalter einige Tausend Teilnehmer angekündigt hatten!
Tausende Leute ohne Maske, die den Tod der Regierung wollen. Keine Polizei weit und breit. Gerade mal die 110 gewählt und das gemeldet. Da schien man überrascht davon. pic.twitter.com/qoWFLppg2L
— Enno Lenze (@ennolenze) October 25, 2020
Im Grunde wiederholte sich das Spiel vom letzten Mal: die eigentliche Veranstaltung wurde sehr schnell für aufgelöst erklärt und es kam tatsächlich zu einigen Festnahmen, doch der Großteil der Demonstranten gab einfach einen feuchten Dreck auf die Anweisungen der Polizei vor Ort und begann stattdessen spontan eine neue Demo, die zur Karl-Marx-Allee zog. Dabei wurden Polizisten attackiert, Journalisten und der Regierung mit dem Tode gedroht, Absperrungen durchbrochen und natürlich sämtliche Seuchenschutzmaßnahmen ignoriert. Feuerwehrwagen wurden blockiert und Passanten mit MNS verbal angegangen. Die anwesenden Polizisten blieben angesichts der chaotischen Situation erstaunlich ruhig – sogar als einige Beamte sich plötzlich selbst in einem Kessel von Querdenkern wiederfanden! Es kam zu Handgreiflichkeiten, aber der Eindruck überwog: Man ließ sich von der üblichen Mischung aus Esoterikern, Dauerempörten, Rechten und Antisemiten lieber auf der Nase herumtanzen als ihnen etwas entgegenzusetzen. Kontrolliert wurden lieber Teilnehmer der Gegendemo. Vielleicht aus Mitleid mit der überforderten Polizei wurde eine für den Abend angekündigte Kundgebung an der Siegessäule im Laufe des Nachmittags abgesagt.
1245 Aufgeheizte Stimmung bei #Querdenken Demonstration #b2510 ohne MNS , Rangeleien mit @polizeiberlin , Frau beißt Beamten auf Alexanderstrasse in die Hand @rbb24 pic.twitter.com/c1KU0XTJCX
— Olaf Sundermeyer (@O_Sundermeyer) October 25, 2020
Zu Beginn von #b2510 brachen mehrere hundert TeilnehmerInnen durch die Absperrung der Polizei, konnten ungehindert die Karl-Marx-Allee lang und an der Gegendemo vorbei. Einsatzleiter dazu: „Natürlich hätten wir sie aufhalten können. Aber wir wollen diese Bilder nicht.“
— Ann-Katrin Müller (@akm0803) October 25, 2020
Man hätte die Sache ja beenden können, aber man wollte „solche Bilder“ vermeiden, zitierte der Spiegel einen Einsatzleiter der Polizei. Liebe Polizei, genauer: liebe Einsatzleitung und lieber Innensenator Geisel, welche Bilder habt ihr denn vermitteln wollen? Dass die Seuchenschutzmaßnahmen zwar wichtig, aber nicht sooo wichtig sind, dass dafür ähnlich hart agiert wird wie etwa bei der Räumung einer linken Szenekneipe? Dass alle, die sich an diese Maßnahmen halten, einfach selbst schuld sind, weil ihr nichts dafür tut, sie vor aggressiv auftretenden Verweigerern zu schützen? Dass ihr die Corona-Maßnahmen nur dann durchsetzt, wenn es um feiernde Jugendliche geht, die zahlenmäßig unterlegen sind? Dass eure Wasserwerfer und Schlagstöcke alle einen kräftigen Linksdrall haben? Dass ihr ohne Rasensprenger leider keine Handhabe gegen Rechtsextreme und Demokratiefeinde habt? Dass „solche Bilder“ bei antisemitischen Verschwörungsgläubigen nicht in Ordnung sind, aber bei Jugendlichen, die für die Zukunft unseres Planeten protestieren, dann doch irgendwie?
Natürlich: Polizeigewalt ist ein ernstes Problem, auch in diesem Land. Und man kann keine Veranstaltung mit Wasserwerfern und Pfefferspray auflösen, bei der auch Familien und Kinder mitlaufen. Es gab Festnahmen und Anzeigen, ja. Und Deeskalation ist im Prinzip eine lobenswerte Strategie. Aber vergleicht man die Bilanz des heutigen Tages mit einer typischen „linken“ Demo oder der Räumung des Hambacher Forstes oder der Liebig 34, dann sieht man, wie wenig Hemmungen der Rechtsstaat bisweilen hat, sein Gewaltmonopol auszuüben, obwohl keine Gefahr für Gesundheit und Leben vieler unschuldiger Menschen besteht. Tage wie der heutige stellen die Legitimation dieses Gewaltmonopols in erschreckender Weise in Frage. Und damit kommen die Feinde unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ihrem Ziel wieder ein Stück näher. Denn die Bilder sind sowieso da und werden in den einschlägigen Foren ausgeschlachtet, wo man schon den Sieg über „das System“ feiert und sich weiter radikalisiert. Aber das Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, seine BürgerInnen zu schützen, das hat wieder einmal gelitten. Und das hilft vor allem denen, die diesen Staat lieber heute als morgen am Boden sehen würden.
Was mich als Berliner zusätzlich wütend macht:
dieses Wochenende hat sämtliche Aufrufe, Warnungen, Drohungen von Wissenschaft und Politik ad absurdum geführt! Und all denen einen kräftigen Schlag ins Gesicht versetzt, die Corona und die verhängten Maßnahmen ernst nehmen! Doch niemand von denen, die von Lockdown und Verantwortung geredet haben, hat Berlin vor den Ereignissen dieses Wochenendes geschützt!
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