#b2908 – Statement eines Berliners
Entsetzen! Überraschung! Bestürzung! Das sind die Reaktionen aus Politik und Medien über die gestrige “Querdenken”-Demonstration und die Eskalationen vor der russischen Botschaft und vor dem Reichstagsgebäude. Tatsächlich ist diese Reaktion kaum ernster zu nehmen als die “Anteilnahme”, die “Erschütterung” und das “Nie wieder”, das es nach den Anschlägen von Hanau oder Halle zu hören gab. Wer sich von den Vorgängen des gestrigen Tages wirklich „überrascht“ fühlt, der hat ein ernstes Wahrnehmungsproblem! Wie schon bei Pegida heißt es unentwegt: „Hört diesen Menschen zu! Nehmt sie ernst!“ Wer das in den vergangenen Wochen auch nur ansatzweise getan hat, dem hätte klar sein müssen, was sich da zusammenbraut! Die “Sorgen und Nöte” von Corona-Skeptikern, wie auch von Rechtsextremen liefen allesamt auf den einen Schluss zu: Die Corona-Maßnahmen sind falsch und ein direkter Weg in die Diktatur. Die Regierung, die diese Maßnahmen durchsetzen will, stellt eine Bedrohung dar, gegen die man sich wehren darf und muss!
Daher kam auch der Zusammenschluss von Esoterikern, Verschwörungsgläubigen und Neonazis nicht so plötzlich und unerwartet, wie es Kommentatoren immer wieder betonten! Das alles geschieht seit Monaten direkt vor unseren Augen! Die Wahl der Mittel mag sich (noch) unterscheiden, doch die gestrigen Geschehnisse haben gezeigt, dass auch von friedlichen Demonstranten der bürgerlichen Mitte zumindest kein Widerstand zu erwarten ist, wenn einzelne Akteure der rechten Szene das Geschehen dominieren und ihre Idee vom “Sturm auf den Reichstag” in die Tat umsetzen wollen. Wieso auch? Man sieht sich inzwischen als Teil einer Bewegung und da möchte niemand der Partycrasher sein, der seinen Nebenmann darauf hinweist, dass eine Reichsflagge auf den Stufen des Reichstagsgebäudes vielleicht nicht vereinbar ist mit “Frieden und Liebe”.
Unsere Recherche Teil 1 zu #b2908 ist nun Online.
— Gegen_die_Alternative_für_Deutschland (@Gegen_die_AfD) August 26, 2020
- Netzwerke von #AfD bis III Weg und Die Rechte
- Holocaustleugner Netzwerk Guthmannshausen
- Rechtsradikale Netzwerke bis zu Combat 18 nahe Gruppierungen.https://t.co/4OsTCueLG1 #AfD #NoAf Über 1000 Quellen! @janboehm
Die Polizei war dieses Mal glücklicherweise präsenter und konsequenter als bei der letzten Demo. Die Eskalation vor der russischen Botschaft zeigte, dass die Behörden auch scharf durchgreifen können, wenn die Lage aus dem Ruder läuft. Es gab Festnahmen, darunter auch Attila Hildmann, aber von einem durchgängig „erfolgreichen Einsatz“ kann nur bedingt die Rede sein.
An der Einmündung Unter den Linden / Schadowstraße mussten wir zahlreiche weitere Festnahmen durchführen, unter anderem wegen Flaschenwürfen, Gefangenenbefreiungen und weiteren Straftaten. Unter den Festgenommenen ist auch ein Autor veganer Kochbücher. #b2908
— Polizei Berlin Einsatz (@PolizeiBerlin_E) August 29, 2020
Vor der Bühne im Bereich der Reichstagswiese wurden Teile der Absperrung umgeworfen. Es drangen Personen in den gesperrten Bereich vor. Dagegen sind wir vorgegangen & werden nun die Anwesenden von der Wiese herunterführen. Gleich gehen dort auch die Rasensprenger an. #b2908
— Polizei Berlin Einsatz (@PolizeiBerlin_E) August 29, 2020
Und wenn die Polizei hofft, dass die Rasensprenger vor dem Reichstagsgebäude die dortigen Rechtsextremen in Schach halten könnten, anstatt einfach die Wasserwerfer in Stellung zu bringen, dann zeigt sich, dass bei links und rechts immer noch mit zweierlei Maß gemessen wird! Erneut haben die “Querdenker” gezeigt, dass sie die Polizei problemlos vorführen können, indem sie Anordnungen zur Auflösung der Veranstaltung einfach ignorieren oder aushebeln. Und trotz des Durchgreifens der Polizei gegen Gewalttäter entstanden Bilder, die der Reichsbürger- und Neonazibewegung einen gewaltigen Auftrieb geben und die diversen dort vertretenen Lager noch enger zusammenschweißen werden!
Die Medienstrategie der Neuen Rechten sollte uns zumindest eines gelehrt haben: es kommt auf eben solche Bilder an. Dabei ist es egal, ob die Demonstranten am Ende den Weg in das Reichstagsgebäude gefunden oder mit Pfefferspray von den Treppen vertrieben wurden, wie es ja dann auch irgendwann geschehen ist. Das Berliner Regierungsviertel, die Botschaften und die Treppen des Reichstagsgebäudes wurden zur Kulisse für die Inszenierung einer “Revolution des Volkes”, die so zum Glück nicht stattgefunden hat. Dadurch festigt sich der Zusammenhalt und das Selbstvertrauen einer Bewegung, die auch davon fabuliert, dass Polizisten vor der russischen Botschaft ihre Helme abgenommen und die Seiten gewechselt hätten, während dort gerade reihenweise gewalttätige Demonstranten abgeführt wurden. Es geht nicht um Fakten, es geht wie auch bei Verschwörungsmythen um Fiktionen und fakes. Auch dieses Mal kursierten wieder absurd hohe Teilnehmerzahlen, die vor allem eines erreichen sollen: die Beteiligten immer weiter von der öffentlichen Berichterstattung abkoppeln und fester an die Gemeinschaft binden. Das kennt man von Sekten, aber auch von totalitären Bewegungen. Wenn wir nicht wollen, dass diese Bilder über die Blase der Verschwörungsgläubigen und Rechstextremen hinaus Wirkung entfalten, sollten wir tatsächlich nicht den Fehler machen, auf die Selbstdarstellung der Akteure einzusteigen und etwa von “Stürmung des Reichstages” zu sprechen! Diese fand nicht statt!
Als Berliner stößt mir neben des Missbrauchs meiner Stadt als Kulisse für diese Inszenierung eines besonders auf: Der Gegenprotest spielt in der Berichterstattung der Medien kaum eine Rolle, auch da die Polizei praktisch keinen Kontakt zur Demo erlaubte. Dabei war dieser Gegenprotest da und er war laut! Allerdings hätte er viel lauter sein müssen: Die AktivistInnen, die sich den „Querdenkern“ entgegenstellten, hätten deutlich mehr Unterstützung auch aus der Zivilbevölkerung und der Politik erhalten müssen! Auch hier stellt sich die Frage, wie irgendjemand von den Geschehnissen noch überrascht werden konnte! Wo blieb der Sturm der Entrüstung, dass Journalisten nicht mehr unbehelligt arbeiten konnten und dass Menschen mit MNS von Maskenverweigerern angepöbelt und bedroht wurden? Wo blieb die Empörung darüber, dass Neonazis ihre Gesinnung im Schutz der Menge offen vor sich hertragen konnten und von niemandem ausgegrenzt oder zurechtgewiesen wurden? Wo blieb die Versicherung an die PoC und Migranten in unserer Stadt, dass Berlin hinter ihnen steht und die Polizei sie zu schützen in der Lage ist? Seitens der CSU etwa hat man sich in erster Linie darauf verlegt, die gewaltbereiten Rechtsextremen als “Chaoten” zu verharmlosen und war sich auch nicht zu schade, sie mit der “Antifa” oder auch “Greenpeace” gleichzusetzen. Was vor allem eine krasse Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Bedrohung von rechts zum Ausdruck bringt!
So war dieser Tag keine Niederlage des Rechtsstaates, aber auch kein Grund für Selbstbeweihräucherung oder Verharmlosung! Die Veranstalter der Demo konnten ihre Theorien verbreiten und sich darüber hinaus als Opfer präsentieren und den Staat vorführen. Die Neonazis, deren „Sturm“ auf den Treppen des Reichstagsgebäudes verpuffte, konnten austesten, wie weit sie gehen und mit wieviel Unterstützung sie rechnen können, wenn sie es einmal ernst meinen. Wirklich erfolgreich waren in erster Linie die drei Polizisten, die die Türen des Reichstages schützen konnten, bis die Verstärkung eintraf. Ihnen sei der Medienrummel gegönnt. Der immens hohe Adrenalinspiegel war den Beamten auf dem Video jedenfalls deutlich anzusehen.
Berlin steht noch, in der Nacht von Samstag auf Sonntag zogen keine aufgeputschten Horden von Neonazis durch die Straßen, soweit ich weiß. Die Revolution musste ausfallen, aber unsere Demokratie zeigte sich nur bedingt wehrhaft. Hoffentlich lernt man daraus. Und Berlin leckt derweil seine Wunden.