
Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung: Chancen erkennen – Vorurteile abbauen
Bevor wir uns näher mit der Thematik über die Chancen für Menschen mit Behinderung und über das Abbauen von Vorurteilen befassen, möchte ich darauf eingehen, was Behinderung ist und was sie bedeutet. Ich hoffe, mit diesem Artikel das Interesse für dieses Thema wecken zu können und anzuregen, sich tiefergehend mit der Sache auseinanderzusetzen.
Ebenfalls möchte ich vorausschicken, dass ich selbst sogenannt schwerbehindert bin. Ich habe eine hochgradige Sehbehinderung, eine Agoraphobie, leide an einer Posttraumatischen Belastungsstörung und habe eine Angststörung. Auch aus diesem Grunde ist mir dieses Thema eine Herzensangelegenheit.
Medizinische Definition von Behinderung
Im medizinischen Sinne wird eine Behinderung als eine angeborene oder erworbene, physische oder psychische Beeinträchtigung in der Interaktion mit der Umwelt bezeichnet.
Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) geht hier von drei Begrifflichkeiten aus, die da wären:
- impairment (Schädigung): Mängel oder Abnormitäten der anatomischen, psychischen oder physiologischen Funktionen und Strukturen des Körpers
- disability (Beeinträchtigung): Funktionsbeeinträchtigung oder -mängel aufgrund von Schädigungen, die typische Alltagssituationen behindern oder unmöglich machen
- handicap (Behinderung):
Nachteile für eine Person aus einer Schädigung oder Beeinträchtigung
Rechtliche Definition von Behinderung
Behinderung wird in Deutschland im Sozialgesetzbuch, 9. Buch, wie folgt definiert:
§ 2 Absatz 1 SGB IX
„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“
§ 2 Absatz 2 SGB IX
„Menschen sind im Sinne des Teils 3 (des SGB IX) schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.“
Die UN-Behindertenrechtskonvention, die auch von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde, geht hier noch einen Schritt weiter. Gemäß dem Leitmotiv „Wir sind nicht behindert, sondern wir werden behindert“, stellt diese die gesellschaftlichen Barrieren stärker in den Fokus. Auch chronische Erkrankungen mit episodischem Verlauf, wie z. B. Epilepsie, Rheuma oder Multiple Sklerose, sind hier mit eingeschlossen. Es heißt:
Artikel 1 und Präambel der UN-BRK
„Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen (gemeint sind: einstellungs- und umweltbedingte) Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“
Bewegung und Chance
Seit der sogenannten „Neuen sozialen Bewegungen“ der 1960er Jahre, deren Ziele „die Einforderung von Partizipation und Anerkennung als Bürger“ waren, schufen sich Menschen mit Behinderungen immer mehr Freiräume und Chancen. Unter anderem begannen sie damit, inklusive Vereine und Clubs zu gründen, deren Ziele in erster Linie die „altersgerechte Freizeitgestaltung“ waren, was allerdings durch bestehende Barrieren erschwert wurde. Um diese Barrieren ab zu bauen, begannen einige Gruppen damit, sich in die Lokalpolitik einzumischen. Diese Clubs, die sich „Clubs Behinderter und ihre Freunde“ (CeBeef) nannten, schlossen sich im Jahre 1971 zu einer Bundesarbeitsgemeinschaft zusammen, um deren Vorstellungen von einem „partnerschaftlichen Miteinanders vorzuleben und für sie zu werben“.
Die wohl größte Hürde der Bewegung war, dass das vorherrschende Bild der Gesellschaft der Gleichstellung und der Teilhabe von Menschen mit Behinderung entgegenstand. Dabei erfolgte die Ausgrenzung nicht durch die körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, sondern durch die gesellschaftliche Ausschlussreaktion darauf, weshalb die logische Konsequenz verstärktes Engagement in der Politik war. Die wohl radikalsten Gruppen entstanden Ende der der 1970er Jahre um die Aktivisten Franz Christoph und Horst Frehe. Diese nannten sich, bewusst provokativ, „Krüppelgruppen“, aus denen Menschen ohne Behinderung konsequent ausgeschlossen waren.
1980 vernetzten sich die verschiedenen Gruppen, nachdem es im Februar des Jahres zu einem skandalösen Gerichtsurteil kam, da eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen als „Reisemangel“ bezeichnet wurde und ein Teil der Reisekosten an die Kläger zurück erstattet werden musste. Es folgte eine große Demonstration in Frankfurt am Main, wodurch es zum ersten Mal zur Thematisierung des Widerstands von Menschen mit Behinderungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kam, da die „Tagesschau“ darüber berichtete. Auf der Demonstration wurde vor allem das Glorifizieren der herrschenden Verhältnisse, ohne Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, vor allem in Hinblick auf Selbstvertretung und gesellschaftliche Teilhabe, kritisiert.
Nun schlossen sich die bestehenden Gruppen zur „Aktionsgruppe gegen das UNO-Jahr“ zusammen. Unter dem Motto „Jedem Krüppel seinen Knüppel“ wurde die Störung der Eröffnungs-Veranstaltung in Dortmund organisiert. Den Abschluss des Jahres bildete die Gründung des „Krüppeltribunal“, das die „Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat“ anklagte.
Durch diese Aktionen hatte die Bewegung nun öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, jedoch blieben Veränderungen vorerst weiterhin aus. Erst durch weitere inhaltliche Auseinandersetzungen und Aktionen im Anschluss konnte die Situation für Menschen mit Behinderungen nach und nach verbessert werden.
Leben mit Behinderung in der Gegenwart
Auch in der Gegenwart ist es längst nicht so, dass Menschen mit Behinderungen überall zur Normalität gehören und als gleichwertige Menschen anerkannt sind. Barrierefreiheit ist längst nicht überall gegeben, sei es an Bahnhöfen, in der Stadt, in öffentlichen Verkehrsmitteln, oder auch im Internet. Hier gibt es noch viel zu tun.
Ebenso gibt es nach wie vor alltäglichen Ableismus, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Neben den bekannten Formen der Diskriminierung, wie zum Beispiel die Verwendung von Wörtern und Ausdrucksweisen wie „Spast“, „Bist Du behindert?“ usw. erleben wir Ableismus häufig sogar von öffentlichen Stellen gegenüber Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen, wie beispielsweise Agoraphobie oder PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung).
Ein Beispiel: Eine betroffene Person bekommt ein Formular, dass sie/er bis zu einem bestimmten Datum ausfüllen muss, was aber aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung für die Betroffenen oft nicht machbar ist. Hier wird dies nicht berücksichtigt und in der Regel werden diese Menschen sanktioniert. Leider sind dies keine Einzelfälle, sondern die Regel. Selbiges gilt für Amtsvorladungen, die aufgrund der Beeinträchtigung nicht wahrgenommen werden können.
Hier wird es offensichtlich, dass es noch vieles zu tun gibt, um betroffenen Menschen nicht weiterhin Unrecht an zu tun, das nicht als Unrecht gewertet wird.
Und dennoch gibt es heute wesentlich bessere Möglichkeiten und Chancen für Menschen mit Behinderung, am gesellschaftlichen Leben Teil zu nehmen. Sei es durch gestiegene Akzeptanz in vielen Teilen der Gesellschaft, oder in den Möglichkeiten, Hilfen hierfür erhalten zu können. Als Beispiele möchte ich an dieser Stelle zum Einen Beratungsstellen erwähnen, die man als Betroffene*r, aber auch als Angehörige*r aufsuchen kann. Ebenso Hilfsmittel wie Rollstuhlrampen, Lesegeräte usw., die oftmals von den Krankenkassen übernommen werden. Jedoch gibt es auch in diesen Bereichen noch Verbesserungsbedarf, da längst nicht alle betroffenen Menschen die nötige Ausstattung erhalten.
Der internationale Tag der Menschen mit Behinderung
Am 3. Dezember soll verstärkt auf die rund 15 % der Bevölkerung aufmerksam gemacht werden, die eine oder mehrere Behinderung/en haben. Mehr als 80 % Dieser Menschen erhalten nicht die Hilfen und/oder Versorgung, die sie brauchen. Mehr als die Hälfte der betroffenen Menschen sind Opfer von Diskriminierung. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit Behinderung nicht die nötige medizinische Versorgung erhalten, liegt dreimal höher. 9 von 10 Kindern mit Behinderung besuchen keine Schule. Bis zu 80 % der Betroffenen im arbeitsfähigen Alter sind vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Menschen, die in Werkstätten arbeiten, erhalten oftmals einen Lohn, der weit unter Mindestlohn-Niveau liegt.
Dieser Tag soll uns diese Tatsachen vor Augen führen und uns dazu auffordern, diese Missstände zu korrigieren.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen solidarischen, internationalen Tag der Menschen mit Behinderung.
Quellen
Handicap-international.de, WHO, UNDESA, UNICEF, ILO, Bundeszentrale für politische Bildung, Studentenwerke.de, Behinderung.org, DocCheck Flexikon, Sozialgesetzbuch 9. Buch.
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One thought on “Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung: Chancen erkennen – Vorurteile abbauen”
Lieber Michael!
Ich bin immer wieder erschrocken/schockiert, wieviel Steine auf dem Weg zur Barrierefreiheit liegen, wieviel Knüppel Menschen mit Beeinträchtigungen zwischen die Beine geworfen werden. Einen kleinen Einblick bekam ich als Bufdi und als helfende Arbeitskraft, als ich Gemeinwohlarbeit in einer Werkstatt-Wäscherei verrichtete.
Es gibt noch verdammt viel zu tun auf dem Weg in die „Barrierefreiheit“, in den Köpfen und im Alltag.
Danke, für dein Engagement.
Viele Grüße
Petra
Twitter-Nickname: Erfurter Puffbohne (Petra) (aka Grummel)