
Art. 20 IV GG – Widerstandsrecht
Der am häufigsten (na ja, vielleicht neben der Meinungsfreiheit) falsch interpretierte Artikel unserer Verfassung
Gehen wir direkt in medias res.
Art. 20 IV GG hat ein guter Freund von mir, kein Jurist, sehr treffend auf den Punkt gebracht.
„Wenn alles am Arsch ist, auch das Bundesverfassungsgericht, dann darf ich, um die Demokratie zu verteidigen, Gewalt anwenden!“
Da ein Blick ins Gesetz die Rechtsfindung stets erleichtert (ja ich weiß, ein abgestandener Juristenscherz, aber lasst mir auch meinen Spaß), hier erst einmal der Gesetzestext:
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Absatz 4 wurde nicht von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes in dieses eingefügt, obwohl diese im Hinblick auf das Regime der Nationalsozialisten sehr wohl eine wehrhafte Freiheitlich-Demokratische Grundordnung im Sinn hatten. Er wurde erst 1968 im Rahmen der Notstandsgesetze in die Verfassung eingefügt und unterliegt damit nicht der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 GG. Damit ist Art. 20 IV GG so ziemlich das einzige in meinen Augen Vernünftige, was damals in der hektischen Zeit an gesetzlichen Regelungen geschaffen wurde.
Ich bin kein Philosoph, sondern nur Jurist. Aber selbst ich weiß, dass die philosophische Diskussion über einen „Tyrannenmord“ nicht neu ist, ganz im Gegenteil. Es gibt sie, seit es Staaten gibt.

Wann ist also Widerstand nach Art. 20 IV GG gerechtfertigt? Ja, gerechtfertigt! Denn wenn es tatsächlich eine Widerstandshandlung nach Art. 20 IV GG war, dann kann man auch deswegen nicht nach Wiederherstellung der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung verurteilt werden.
Da es eine juristische Frage ist und keine mathematische, gibt es darauf auch keine einfache Antwort wie 1 plus 1 gleich 2.
Aber wann eine solche Widerstandshandlung keine ist, kann man dies oft relativ einfach beurteilen. Schauen wir jetzt einmal auf die Voraussetzungen.
Es muss sich um einen Akt sozialer Notwehr handeln, gegenüber einer verbrecherischen Obrigkeit, der das Unrecht geradezu auf die Stirn tätowiert ist. Das kann man zum Beispiel daran festmachen, dass die Staatsmacht fundamentale Grund- und Menschenrechte ungeschützt lässt oder selbst verletzt. Das gilt auch dann, wenn ein Gesetz in grober Weise gegen die Gerechtigkeit verstößt und damit (ungültiges) gesetzliches Unrecht ist. Ein Gesetz, das Gerechtigkeit gar nicht bezweckt, ist »Nichtrecht« (Rechtsphilosoph und Staatsrechtler Gustav Radbruch). Und es muss ULTIMA RATIO sein, das letzte Mittel, und es muss verhältnismäßig sein. Dazu muss es auch erfolgsversprechend sein. Nein, das ist nicht nur meine Meinung, sondern ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes.
Schwierig, nicht wahr?
Ultima Ratio – Das allerletzte Mittel
Ob der Widerstand ein Widerstand im Sinne des Art. 20 IV GG ist, dazu müssen wir uns zu allererst einmal ansehen, was Ultima Ratio in dem Zusammenhang bedeutet, das letzte und zwar wirklich das allerletzte Mittel.
Ein Szenario:
Das Bundesverfassungsgericht gibt es nicht mehr, die Regierung hat sich alle Ermächtigungen übertragen lassen, die Gerichte wenden nur noch das neue „Nichtrecht“ der XYZ-Partei an, Frauen wieder an den Herd, Ausländer raus. Gewaltenteilung ist nur noch ein in den Geschichtsbüchern niedergeschriebenes Konzept von Montesquieu. Rechtsbehelfe stehen keine zur Verfügung und ein gewisser „Hynkel“ möchte sich morgen zum Diktator ernennen. Und Du hast die Möglichkeit, ihn auf dem Weg zur Inthronisation zu beseitigen, was mit großer Wahrscheinlichkeit die ganze Bewegung zerschlagen würde. Ja, das ist so was von einem klaren Fall des Art. 20 IV GG – soll ja auch so sein, weil extra dafür zusammenfabuliert.
Ein anderes Szenario:
Die Regierung stellt fest, dass es eine neue Gefahr gibt, 29 G schädigt die Gesundheit und macht unfruchtbar. Deswegen werden alle Handymasten abgeschaltet. Die Menschen protestieren gegen das Unrechtsregime, wollen Mobilfunk, fordern die Freiheit, sich entscheiden zu dürfen, zocken zu können und dann halt unfruchtbar zu werden (dass andere dann auch betroffen sind, interessiert ja keinen). Und wieder (spielt in der Zukunft) schreien Leute „Widerstand“ und berufen sich auf Art. 20 IV GG. So klar wie der obige Fall ein Fall des Widerstandes war, so klar ist dieser keiner.
So lange es noch die Möglichkeit gibt, mit rechtstaatlichen Mitteln gegen ein Gesetz, eine Verwaltungsvorschrift, eine Anordnung usw. des Staates vorzugehen, zum Schluss sogar das Bundesverfassungsgericht anzurufen, so lang kann und wird es keinen Fall des Art. 20 IV GG geben!
Kommen wir also einmal zur aktuellen Situation:
Hygienedemos und Widerstand
Die Menschen, die ihre Freiheitsrechte durch die noch bestehenden Corona Maßnahmen eingeschränkt sehen, berufen sich zur Zeit immer lauter auf Art. 20 IV GG und meinen, ihre Demos, die durch die Unterschreitung der Abstandspflicht und Verstoß gegen die Maskenpflicht rechtswidrig sind, wären dadurch gerechtfertigt.

Dann beginnen wir doch einmal mit dem Subsumieren, also den Lebenssachverhalt mit dem Gesetz abzugleichen, um zu schauen, ob das Widerstandsrecht wirklich greift.
„Eine Regierung, der das Unrecht auf die Stirn tätowiert ist“
Nun, jeder von uns hat sicher das eine oder andere an der Regierung auszusetzen, oft zu Recht, vielleicht auch einmal zu Unrecht. Das ist Meinung und unser gutes Recht. Aber die Regierung versucht, auch wenn sie es meiner Meinung nach nicht immer schafft, sich im Rahmen unserer Freiheitlichen-Demokratischen Grundordnung zu bewegen. Daher scheitert es schon an diesem Punkt und das deutlich.
Aber um die „Prüfung“ fortsetzen zu können, unterstellen wir, dass dieser Punkt zutreffen würde.
„Ultima Ratio“
„Das letzte Mittel“, daran scheitern die Phantasien der Hygiene-Demonstranten deutlich!
Die Rechtsprechung funktioniert auf jeden Fall noch und JEDER hat die Möglichkeit, gegen die Corona-Maßnahmen auf dem Weg vorzugehen, den das Gesetz vorsieht. Und es gibt Menschen, die das auch tun, mal mit und mal ohne Erfolg.
Und dazu gibt es eine lange Liste an Beschlüssen und Urteilen, hier mal eine kleine Auswahl:
- Bayerischer Verwaltungsgerichtshof – Az.: 20 NE 20.955 – Beschluss vom 07.05.2020
- VG Köln – Az.: 7 L 814/20 – Beschluss vom 07.05.2020
- VG Köln – Az.: 7 L 809/20 – Beschluss vom 07.05.2020
- VG Köln – Az.: 16 L 787/20 – Beschluss vom 08.05.2020
- VG Lüneburg – Az.: 13 MN 143/20 – Beschluss vom 11.05.2020
- VG Aachen – Az.: 7 L 313/20 – Beschluss vom 06.05.2020
- Oberverwaltungsgericht Saarland – Az.: 1 B 345/19 – Beschluss vom 04.05.2020
Und -oh Wunder- nicht in allen dort aufgelisteten Beschlüssen siegte Vater Staat.
Also ist es deutlich, die Judikative macht ihre Arbeit, der Bürger hat Möglichkeiten, daher keine Anwendbarkeit von Art. 20 IV GG.
Und ich komme zum Schluss:
Art. 20 IV GG ist das letzte Mittel der wehrhaften Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung, wenn deren Abschaffung droht. Es kann sich keiner darauf berufen, wenn es noch andere Mittel gibt, eine Einschränkung von Grundrechten oder einen Unrechtsstaat abzuwenden.
Wenn es jedoch so weit sein sollte, dann ist Art. 20 IV GG sogar eine Rechtfertigung. Dann und nur dann!
In diesem Sinne Freiheilich-Demokratische Grüße
Ein Jurist
Ass. Iur.

Ein Jurist -
Ass. Iur.
In regelmäßigen Abständen werde ich, Volljurist aus NRW, hier etwas über unsere Verfassung und vielleicht auch das eine oder andere Thema schreiben. Ich erhebe, anders als manche Berufskollegen, keinen Anspruch auf 100%-ige Richtigkeit oder Vollständigkeit. Das ist hier auch nicht möglich. Wer das möchte, begebe sich zu einer größeren Stadtbibliothek, besorge sich dort den Bleibtreu-Klein oder den Jarras-Pieroth, beides gute Kommentare zum Grundgesetz, und nehme sich dann viel Zeit, so eine Woche, wobei das eigentlich zu wenig ist, weil man sich ja auch mit Rechtssystematik beschäftigen muss, und dann hat man einen ersten Überblick. Für sachliche Kritik, sinnvolle Ergänzungen und Widerspruch bin ich immer zu haben.